Salesianer-Provinzial: Kinder der Ukraine leben mit ständiger Angst
In Lemberg (Lwiw), nur rund 500 Kilometer von Österreichs Grenze, hat man nach einem Jahr gelernt, mit dem Krieg zu leben. Gekämpft wird zwar weit weg im Osten, doch immer wieder gibt es in der größten westukrainischen Stadt Luftalarm und vereinzelt auch Raketeneinschläge. Das ständige Leben unter Bedrohung hinterlässt bei Kindern und Jugendlichen tiefe Spuren, so die Erfahrung des ukrainischen Provinzials der Salesianer Don Boscos, P. Mykhailo Chaban. Bei seinem dieswöchigen Wien-Besuch beim "Hilfswerk Jugend Eine Welt" berichtete der Geistliche im Interview mit der Nachrichtenagentur Kathpress vom Bemühen seines Ordens, auf die speziellen Nöte der Kinder und Flüchtlinge einzugehen.
"Angst ist das bestimmende Gefühl in Lemberg, besonders unter den Kindern", sagte P. Chaban. Handelte es sich dabei in den ersten Kriegswochen noch um Panik angesichts einer unverständlichen Gefahr und dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit, so hätten mittlerweile alle dazugelernt. "Auch die Kinder wissen jetzt genau, wie sie sich bei einem Luftangriff benehmen müssen und wann sie in den Bunker verschwinden müssen. Die Kenntnis aller Schutzmaßnahmen hilft, mit der Bedrohung umzugehen, und man hat sich an die Alarmsirene schon gewöhnt. Die Angst blieb aber dennoch und ist zum ständigen Begleiter geworden", so der griechisch-katholische Geistliche.
Trotz der Luftangriffe geht das Leben weiter, und zumindest in der Westukraine bemüht man sich nach Kräften, zumindest den Anschein von Alltag zu schaffen. In den "Oratorien", den salesianischen Freizeitzentren, sind Kinder und Jugendliche zu Fußballligen, Gymnastikkursen oder Cheerleader-Training eingeladen, auch die Lernhilfe erfährt viel Nachfrage. "Freizeitangebote sind eine wichtige Ablenkung. Sport und Spaß lassen zumindest für einige Momente die Probleme vergessen, zudem wird dabei die Integration der Flüchtlingskinder und ihrer Familien gefördert", erklärte P. Chaban.
Lächeln muss erst wieder gelernt werden
Gerade die Flüchtlingskinder aus dem Osten haben freilich viel Schlimmes erlebt und sind schwer davon gezeichnet. Chaban berichtete von einem von den Salesianern aufgenommenen Kind aus Mariupol, dessen Mutter bei den Angriffen verstarb, wie auch von drei Brüdern, die durch einen Bombenangriff zu Waisen wurden. Die Kinder seien in psychologischer Betreuung, "vor allem aber wollen wir ihnen Hoffnung vermitteln und ein neues Zuhause geben, damit ein Weiterleben für sie möglich ist", erklärte der Priester. Wenigstens in kleinen Schritten zeigten die Bemühungen auch Erfolg: "Langsam, aber jeden Tag ein bisschen mehr, sieht man die Kinder wieder lächeln."
Mit der Betreuung von Waisenkindern sind die Salesianer in Lemberg bestens vertraut: Schon vor dem Krieg führten sie eine Einrichtung für Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Zu Kriegsbeginn wurden sie von P. Chaban höchstpersönlich in eine Niederlassung des Ordens im Ausland gebracht. Fast alle von ihnen sind jedoch in der Zwischenzeit schon wieder zurückgekommen - wie auch 90 Prozent aller Lemberger Kinder, die zu Kriegsbeginn ins Ausland gingen. Im Falle der evakuierten Waisenkinder bleiben laut Chaban nur einige wenige in der Slowakei, um dort ihre Ausbildung fertig zu machen.
Als besonders wichtig für die psychische Gesundheit der Kinder bezeichnete der Ordensmann den Schulunterricht. Diesen gibt es in der Ukraine in den zentralen und östlich gelegenen Städten wegen der Luftalarme nur sehr eingeschränkt oder gar nicht. In Lemberg hingegen können die meisten Schulen ihren Betrieb weiterführen - "und angesichts der vielen Flüchtlingskinder bleibt ihnen gar keine andere Wahl", so P. Chaban. In Lemberg und anderen Städten der Westukraine seien die meisten Schulen wegen der Binnenflüchtlinge aus dem Osten sogar überfüllt.
Mini-Stadt der Geflüchteten
Auch ganz allgemein ist das Flüchtlingsthema in Lemberg derzeit virulent, habe der Krieg die Stadt doch zum größten Flüchtlingszentrum des Landes gemacht: 200.000 Menschen aus anderen Regionen haben sich seit Februar 2022 zu den vormals 750.000 Einwohnern dazugesellt. 150 von ihnen wurden in Salesianer-Einrichtungen aufgenommen, doch auch darüber hinaus kooperiert der Orden eng mit der Regierung. Wichtigster Schauplatz ist dabei vom Orden zur Verfügung gestelltes Grundstück, auf dem eine Modulstadt errichtet wurde. 1.000 Flüchtlinge - darunter viele Senioren, Menschen mit Behinderungen sowie 220 Kinder mit ihren Müttern - leben dort derzeit.
Die Geschicke der Modulstadt werden von einem Salesianerpriester geleitet, der auch Trauma-Therapie für Kinder organisiert. Auch in der Verköstigung engagiert sich der Orden, dessen Freiwillige tagtäglich ein warmes und kostenloses Essen für alle 1.000 Bewohner kochen. Das von einer italienischen Organisation finanzierte Projekt läuft mit April aus, Chaban hofft jedoch, dass mit Hilfe aus Österreich durch die Don Bosco Mission Austria und das Hilfswerk "Jugend Eine Welt" eine Weiterführung bis Herbstbeginn gelingt - "denn für die Flüchtlinge ist es sehr wichtig, diese Unterstützung durch das Essen zu spüren", unterstrich der Ordensgeistliche.
Vor allem hofft P. Chaban wie auch alle Ukrainer auf ein baldiges Kriegsende mit einem Rückzug der Russen. Fast alle Flüchtlinge wollten wieder in ihre Heimatdörfer und -städte im Osten des Landes zurück, sobald Friede herrsche. Freilich sei die weitere Entwicklung schwer abzuschätzen. "Wir hoffen weiterhin fest, dass wir gewinnen. Andernfalls stünden uns jene Gräuel bevor, die jetzt schon an den Ukrainern im Osten verübt werden, und unsere ukrainische Nation würde zerstört. Gewinnt Russland, gibt es keine Ukraine mehr", so der Provinzial. Mit diesem Ziel und dem gemeinsamen Feind vor Augen sei die Ukraine heute geeint wie nie zuvor. 93 Prozent der Bevölkerung seien von einem Sieg des Landes überzeugt und wollten auch dafür kämpfen, besagten Umfragen. Von Europa brauche man dafür freilich die notwendige "Unterstützung bis zum Ende".
Jugendliche: Kein Ausgang nach 17 Uhr
Persönliche Einblicke in ihren Lemberger Alltag gaben drei Jugendliche, die P. Chaban nach Wien begleitet hatten. Danilo, 17, verbrachte die ersten Kriegsmonate in der Slowakei. "Ich war immer in Angst um mein Volk", sagte er. Von einem einigermaßen "normalem Leben" mit jedoch weniger Freiheiten als früher berichtete der 16-jährige Vlad. "Abends trifft man keine Freunde mehr, da man nach 17 Uhr nicht mehr auf die Straße darf", so der Schüler. Lautes Musikhören gehe nun nicht mehr, da man sonst die Sirene überhöre. Seine Freizeit verbringt Vlad oft mit einem 15-jährigen Flüchtling aus Charkiw und hilft bei der Integration, denn: "Er erlebt mehr Not als ich."
Der dritte Jugendliche, 17 Jahre alt und ebenfalls mit dem Namen Vlad, erzählte vom heute gängigen Online-Learning an allen Lemberger Schulen und Universitäten, die keinen eigenen Bunker haben. "Wenn es einen sicheren Keller gibt, so ist der meistens winzig und kalt." Viele andere seines Alters beteilige er sich an Aktionen, bei denen Lebensmittelboxen zur Versorgung der Militärs an der Front gepackt werden. "Anfangs dachte ich immer, dass ich will nicht erwachsen werden will. Inzwischen verstehe ich, dass ich keine Wahl habe. Ein Weiterleben gibt es nur, wenn man stärker und älter wird."
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